Kann man gotische Kirchenfenster geometrisch rekonstruieren?

Es soll nun folgendes Fenster untersucht werden (nach Kindinger [1995]):

Abb. 5: ev. Kirche in Rimhorn
linkes Foto aus Kindinger [1991], rechte Zeichnung aus Kindinger [1995]

Wie beginnt man die Konstruktion? Zunächst einmal müssen einige Annahmen getroffen werden:

  1. Die erste Annahme ist, dass das Dreieck ABS gleichseitig ist, wir also weder einen gedrückten noch einen überhöhten Spitzbogen haben.
  2. Als nächstes nimmt man an, dass die beiden unteren Kreisbögen Halbkreise sind, ihr Mittelpunkt also auf der Strecke AB liegt. Somit ist ihr Radius festgelegt auf .

Auch der Radius des großen Kreises ist damit festgelegt aber erst einmal unbekannt. Man weiß aber schon folgendes:

  1. Aus Symmetriegründen muss der Mittelpunkt des Kreises auf der Strecke CS liegen.
  2. Die Tangente im Berührpunkt zweier Kreise steht immer auf beiden Radien senkrecht.

Nach Punkt 2 weiß man, dass der Berührpunkt immer auf der Verbindungslinie der beiden Kreismittelpunkte liegen muss. Dies kann man sich noch einmal anhand der Zeichnung (Abb. 5) verdeutlichen.

Die Zeichnung enthält nun zwei rechtwinklige Dreiecke: ∆ACE und ∆CDE über die sich nach Pythagoras folgende Aussagen treffen lassen:

h bezeichnet hier die Länge der Strecke CE

Durch Lösen des Gleichungssystems erhält man für den Radius r:

Kann dieses Ergebnis aber für eine rein geometrische Konstruktion verwendet werden? Kann der Radius des großen Kreises also konstruiert werden?

Ja, denn wie das folgende Applet zeigt, können wir die Multiplikation zweier Streckenlängen geometrisch bestimmen.

Cinderella-Applet 3: geometrische Multiplikation und Division zweier rationaler Zahlen

Da die Addition/Subtraktion zweier Strecken trivial ist, kann man also jeden Term, der nur die Grundrechenarten enthält, geometrisch auswerten.

Wie das nun folgende Applet zeigt, kann man aber auch noch mehr, was wir an späterer Stelle noch brauchen können:

Cinderella-Applet 4: Quadratwurzel einer rationalen Zahl

Das angegebene Beispiel (Abb. 5) lässt sich also rekonstruieren. Nun muss man sich die Frage stellen, ob man jedes gotischen Kirchenfenster rekonstruieren kann, oder ob es Fenster gibt, die sich nicht mit rein geometrischen Mitteln rekonstruieren lassen. Klaus Kindinger beschreibt in Kindinger [1995], warum folgendes Fenster nicht genau rekonstruiert werden kann.

Abb. 6: Klosterkirche in Hirschhorn, Westfenster
aus: Kindinger [1991]

Im folgenden werden einige typische immer wiederkehrende Formen des Maßwerks betrachtet:

Rekonstruktion einiger Beispiele von gotischen Kirchenfenstern